Am 25./26. September: Alternativer Genossenschaftstag

Pressemitteilung, 4.9.2020

Demokratie in Genossenschaften und die Rolle der Genossenschaften für eine soziale Wohnungspolitik sind Schwerpunktthemen des „Alternativen Genossenschaftstags“ am 25. und 26. September. Bei der Auftaktveranstaltung am 25.9. diskutieren Bea Fünfrocken (Xenion), Werner Landwehr (DIESE eG) und der Stadtforscher Andrej Holm über „Die Rolle der Wohnungsgenossenschaften auf dem Weg zu einer sozialen Wohnungspolitik“. In Workshops am
26.9. werden Themen wie die Überwindung undemokratischer Strukturen in Wohnungsgenossenschaften oder die Zusammenarbeit zwischen Mieter*innenbewegung und Genossenschaften behandelt. Ziel des Alternativen Genossenschaftstages ist es, die Werte der ursprünglichen Genossenschaftsbewegung – Selbstverwaltung und Solidarität – wieder zur Richtschnur der Wohnungsgenossenschaften zu machen und stärker in die Öffentlichkeit zu bringen.

Veranstaltet wird der Alternative Genossenschaftstag von der Initiative DIE GENOSSENSCHAFTER*INNEN. Die Gruppe gründete sich im Jahr 2019 aus Protest gegen die Politik der Genossenschaftsvorstände und der Dachverbände wie dem BBU, die mit viel Geld und fragwürdigen Argumentationen versuchten, den Mietendeckel zu verhindern. In „Offenen Briefen“ machten Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften deutlich, dass sie den Mietendeckel unterstützen und darum die Vorstände „Nicht in unserem Namen“ (so der Titel eines Offenen Briefes) reden. „Wir fordern die genossenschaftlichen Dachverbände auf: Hört endlich auf, Euch zum Sprachrohr der „Deutsche Wohnen AG“ zu machen. Wir wünschen uns Genossenschaften und Dachverbände, die die Selbsthilfe und die Interessen der Mitglieder in den Mittelpunkt stellen und gemeinwohlorientierte Reformen nicht behindern“ heißt es dort. Aus diesen Aktionen entstand die Initiative, die sich neben wohnungspolitischen Zielen auch vorgenommen hat, die innergenossenschaftliche Demokratie zu stärken, die durch eine restriktive Gesetzgebung und autokratische Vorstände vielerorts arg gelitten hat.

Die Auftaktveranstaltung am 25. September wird als Online-Veranstaltung stattfinden, die Workshops sind als Präsenzveranstaltungen mit begrenzter Teilnehmer*innenzahl geplant (Anmeldung erforderlich). Weitere Informationen sowie Anmeldemöglichkeiten sind ab sofort auf der Webseitewww.genossenschafter-innen.de zu finden.

Wohnraum für Alle in Genossenschaften?

Was können Berliner Wohnungsgenossenschaften zu einer sozialen Wohnungspolitik beitragen?

Genossenschaften gelten als dritte Säule der Wohnraumversorgung, neben dem Wohnen zur Miete und dem Wohnen im eigenen Eigentum. Sie wirtschaften zur Förderung ihrer Mitglieder – das schreibt auch das Genossenschaftsgesetz vor (§ 1 GenG) – nicht für Profite. Daher können Genossenschaften als eine Form Solidarischen Wirtschaftens verstanden werden.

Genossenschaften sind gekennzeichnet durch das Identitätsprinzip, das bedeutet, dass die Positionen Vermieter*in und Mieter*in, die sich am Immobilienmarkt mit antagonistischen Interessen gegenüberstehen, in einer Organisation vereinigt sind. Jedes Mitglied ist gleichzeitig kollektive*r Miteigentümer*in des Immobilienbestandes und Nutzer*in einer Wohnung.

Dieses soziale Verhältnis ist ein grundlegend anderes als das klassische Mietverhältnis, das ein Abhängigkeits-, ja letztlich sogar ein Unterordnungsverhältnis ist. Die Macht von Wohnungseigentümer*innen wird – oft nur notdürftig – durch mietrechtliche Vorgaben eingeschränkt. Demgegenüber liegt dem genossenschaftlichen Nutzungsverhältnis für einen Teil des gemeinschaftlichen Eigentums ein grundsätzlich würdigeres soziales Verhältnis zugrunde. Gleichwohl gilt im Streitfall auch in Genossenschaften in der Regel das Mietrecht – zum Schutz und zur Wahrung der Rechte der Mitglieder als Bewohner*innen.

Genossenschaftsmitglieder nutzen einen Teil des gemeinschaftlichen Eigentums

Genossenschaften, die sich ein Bewusstsein für ihre besondere Unternehmensform erhalten haben, schließen keine Miet-, sondern Nutzungsverträge ab, die in der Regel ein unkündbares Wohnrecht beinhalten. Gezahlt wird keine Miete, sondern ein Nutzungsentgelt. Dieses soll sich nicht am Markt orientieren, denn Genossenschaften quetschen ihre Mitglieder nicht aus „wie Zitronen“ (Berliner Mieterverein über die Deutsche Wohnen), sondern verteilen nur die anfallenden Kosten. Zumindest sollte es so sein.

In Berlin gibt es 188.400 Genossenschaftswohnungen, fast jede achte Mietwohnung gehört einer Genossenschaft (IBB Wohnungsmarktbericht 2019). Während die Angebotsmieten für Neuvermietungen berlinweit durchschnittlich 10,45 Euro pro Quadratmeter betragen, bieten Genossenschaften freie Wohnungen für 7,23 Euro/qm an (IBB). Die Bestandsmieten lagen Ende 2019 bei durchschnittlich 5,66 Euro pro Quadratmeter (BBU Jahresstatistik 2019). Um eine der begehrten Genossenschaftswohnungen zu bekommen, ist die Mitgliedschaft in der Genossenschaft und die finanzielle Beteiligung mit einer Einlage erforderlich.

In den großen, oft über 100 Jahre alten Genossenschaften halten sich die finanziellen Anforderungen in Grenzen. Sie berechnen sich meist nach der Anzahl der Zimmer einer Wohnung und bewegen sich im niedrigen vierstelligen Bereich. Allerdings haben viele Genossenschaften einen Aufnahmestopp, weil sie schon viel mehr Mitglieder als Wohnungen haben.

Die neueren Genossenschaften, die seit dem Ende des letzten Jahrhunderts gegründet wurden, haben noch nicht so viel Vermögen angesammelt. Die finanzielle Beteiligung wird meist nach der Größe der Wohnung berechnet, pro Quadratmeter muss eine Einlage zwischen einigen Hundert bis knapp eintausend Euro eingezahlt werden. So können erhebliche fünfstellige Beträge zusammenkommen. Aber auch hier gibt es kaum noch freie Wohnungen.

Nicht jede*r findet eine Genossenschaftswohnung

Für die soziale Wohnraumversorgung spielen Genossenschaften eine wichtige Rolle, aber die Nachfrage ist viel größer als das Angebot. Genossenschaften in Berlin errichten nur selten Neubauten – und wenn, dann sind sie teuer, mit nettokalten Nutzungsentgelte ab 10 Euro/qm aufwärts. Bauen kostet viel Geld und die Bodenpreise steigen weiter. Unter Klimagesichtspunkten ist Nachverdichtung in der Innenstadt auch kritisch zu sehen.

Wenn in Milieuschutzgebieten Häuser verkauft werden, bemühen sich mitunter Bewohner*innen darum, dass der Bezirk sein Vorkaufsrecht zugunsten einer Genossenschaft ausübt, und sind sogar bereit, dafür freiwillig höhere Mieten zu zahlen. Die Genossenschaft DIESE eG wurde für solche Fälle gegründet, kann jedoch vorerst keine weiteren Häuser aufkaufen.

Es sind nicht nur, aber auch finanzielle Barrieren, die dazu führen, dass die Bewohner*innenschaft von Genossenschaften oft eher homogen ist. Gerade für diejenigen, die in besonderem Maße auf eine soziale Wohnungsversorgung angewiesen sind, weil sie am Wohnungsmarkt Benachteiligungen unterliegen, sind auch Genossenschaften mitunter eher schwer zugänglich. Daher stellt sich auch die Frage, für wen Genossenschaften bauen – wenn sie dies überhaupt tun – und wem es gelingt es, sich vor Privatisierungen unter das Dach einer Genossenschaft zu retten.

Mitglieder fordern Mitbestimmung

Einige Fragen wirft auch die vielgerühmte genossenschaftliche Demokratie auf. Es stimmt, dass in Genossenschaften jedes Mitglied eine Stimme hat, unabhängig von der Höhe der finanziellen Einlage. Das unterscheidet Genossenschaften von Kapitalgesellschaften. Aber was nützt die gleichberechtigte Stimme, wenn es kaum etwas zu entscheiden gibt? In vielen Genossenschaften trifft der Vorstand die Entscheidungen, oft gemeinsam mit dem Aufsichtsrat. Die Mitglieder – oder in großen Genossenschaften die Vertreter*innen – werden bestenfalls informiert und vor vollendete Tatsachen gestellt.

Viele sind damit zufrieden und scheinen wenig Wert darauf zu legen, stärker in die genossenschaftliche Selbstorganisation eingebunden zu werden. Aber es regt sich auch Widerstand und immer mehr Mitglieder fordern ihre Mitbestimmungsrechte ein – zuletzt auch gegen Kampagnen von Lobbyverbänden der Immobilienwirtschaft und die leitenden Organe von Genossenschaften gegen den Berliner Mietendeckel – und damit auch gegen die Interessen der Genossenschaftsmitglieder, die auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind.

Wohnungsgenossenschaften als Selbsthilfeorganisationen der Mitglieder können eine echte Alternative zu profitorientierten Immobilienunternehmen sein. Jedoch schöpfen sie ihre Potenziale bisher viel zu wenig aus. Wie können sie sich demokratisieren, ihre Bewohner*innenschaft diversifizieren und einen Beitrag zur sozialen Wohnraumversorgung mit bezahlbaren Mieten leisten? Und was könnte die Berliner Politik und Verwaltung zur Hebung genossenschaftlicher Potenziale beitragen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Alternative Genossenschaftstag am Fr. 25. / Sa. 26. September 2020 in Berlin.

Der Text erschien erstmals in der Freitag Community am 24.9.2020

Die Podiumsdiskussion

Auf der Podiumsdiskussion am Freitagabend, die als Livestream aus dem aquarium, einem beliebten Kreuzberger Veranstaltungsort am Kottbusser Tor übertragen wurde, berichtete Werner Landwehr, Vorstand der Genossenschaft DIESE eG, die mehrere Häuser im Rahmen bezirklich ausgeübter Vorkaufsrechte erworben hat, dass viele junge Genossenschaften gerne neu bauen würden, aber keine geeigneten Grundstücke bekämen. Auch eine Genossenschaftsförderung gäbe es praktisch nicht. Der Stadtforscher Andrej Holm stimmte zu und kritisierte, dass die Förderung vom Senat ohne Rücksprache mit den Genossenschaften konzipiert wurde. Er stellte aber auch klar, dass Genossenschaften, wenn sie staatliche Förderung erhalten wollen, Verpflichtungen – zum Beispiel zur Wohnungsvergabe an Menschen mit niedrigem Einkommen – eingehen müssten. Bea Fünfrocken, selbst Aufsichtsrätin einer Genossenschaft, sah die Fixierung auf Staatshilfe skeptisch. Sie setzte  auf die Kreativität und Selbsthilfepotentiale der Genossenschaften, die eine Bewegung von unten wieder zur Geltung bringen müsse.

Da im Laufe der Übertragung eine erhebliche Verschlechterung der Tonqualität eintrat, ist dieses nur der erste Teil der Diskussion. Wir werden versuchen, die Audiospur zu reparieren und dann die gesamte Podiumsdiskussion zugänglich zu machen. Der ungeschnittene Originalclip findet sich hier:
https://www.youtube.com/watch?v=KP7rZcsG_AE
(
Diskussion beginnt bei Minute 55, bis dahin erscheint das einführende Standbild)

Fragen und Anmerkungen der Zuschauer*innen zur Podiumsdiskussion

Während der Podiumsdiskussion am 25.9.2020 gab es die Möglichkeit, über email Fragen und Anregungen zur Diskussion einzureichen. Welche Themen beschäftigen Genosssenschafter*innen? Hier dokumentieren wir einige Mails.

 

Die Workshops – Themen und Ergebnisse

Die Forderung nach einer Demokratisierung von Genossenschaften zog sich wie ein roter Faden durch die vier Workshops am Samstag. Mitglieder aus vielen Wohnungsgenossenschaften trugen Ideen und Vorschläge zusammen.


Wir bedanken uns beim aquarium am Kottbuser Tor, bei der Regenbogenfabrik in der Lausitzer Straße, dem Stadtteilzentrum Familiengarten in der Oranienstraße und dem Nachbarschaftszentrum Kiezanker  in der Cuvrystraße, dass sie uns unkompliziert Räume für die Workshops zur Verfügung gestellt haben. In Pandemiezeiten Diskussionräume jenseits des Internets zu öffnen, ist derzeit eins der größten Probleme zivilgesellschaftlicher Initiativen.

 


Workshop 1: Inwieweit verbinden Wohnungsgenossenschaften ihr wirtschaftliches Handeln mit sozialer Verantwortung für die Gemeinschaft?

Der Workshop wurde gemeinsam vorbereitet und durchgeführt von Bea Fünfrocken (XENION Wohnraum für Geflüchtete), dem AK Wohnungsnot (obdachlose Menschen) und Hestia Wohnraumversorgung (für Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind). Als Möglichkeit, wie Genossenschaften verstärkt Wohnraum anbieten könnten für diejenigen, die kaum Chancen am Wohnungsmarkt haben, beispielsweise Obdachlose oder Geflüchtete, wurde die Gründung eines revolvierenden Fonds vorgeschlagen, in den jede Genossenschaft zum Beispiel 3 % ihres Bilanzgewinns einzahlt und aus dem die Einlagen für mittellose Mitglieder finanziert werden können. Als ersten Schritt  sollte jede der ca. 80 Berliner Wohnungsgenossenschaften bis Ende 2021 mindestens eine Wohnung für Geflüchtete und eine Wohnung für soziale Träger zur Verfügung stellen. Zwei weitere Anregungen aus dem Workshop sind der Entwurf eines solidarischen Leitbilds für Genossenschaften, in dem eine soziale Wohnungspolitik verpflichtend festgeschrieben wird, sowie die Ausbildung der Vorstände, Aufsichtsrät*innen und Mitarbeiter*innen im Sinne des Genossenschaftsgedankens der wirtschaftlichen Selbsthilfe.

Workshop 2: Demokratie in Genossenschaften – Anspruch und Wirklichkeit

Damit sich Genossenschaften von profitorientierten Immobilienunternehmen unterscheiden, müssen sich die Mitglieder stärker beteiligen können.  Wie das gehen kann, untersuchten die Teilnehmenden gemeinsam mit Thomas Schmidt (Moderation). Eine wichtige Erkenntnis: „Das Genossenschaftsgesetz muss geändert werden, damit die Mitglieder mehr Rechte haben“.

Workshop 3: Genossenschaften und stadtpolitische Bewegung(en)

Die Auseinandersetzungen um den Mietendeckel in 2019 haben stadtpolitische Initiativen und Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften stärker zusammengeführt. Im Workshop fragten wir daher: Wie lassen sich diese zarten Pflänzchen stärken, wo sind gemeinsame Interessen, welche gemeinsamen politischen Vorhaben und Forderungen können wir uns vorstellen? Anwesend waren Aktive aus mehreren Berliner Genossenschaften, darunter auch Vertreter*innen und Aufsichtsrät*innen. Sie diskutierten mit Aktiven aus stadtpolitischen Initiativen wie dem „Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“ und der Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“. Denn stadtpolitisch steht 2021 vieles an: es wird die Entscheidung über den Mietendeckel erwartet, das Volksbegehren zur Vergesellschaftung geht in die zweite Sammelphase und im Herbst sind Wahlen – drei Großereignisse, die die Themen Mieten, Wohnen, Stadtentwicklung wieder stärker auf die Agenda setzen werden. Viele Genossenschaftsvorstände machen nach wie vor mobil gegen den Mietendeckel. Hier bestand Einigkeit über die Notwendigkeit, in der Öffentlichkeit und in der Mitgliedschaft argumentativ gegenzuhalten und für eine solidarische Wohnungspolitik zu werben. Insbesondere der BBU mit seinen beiden renditeorientierten Mitgliedern Deutsche Wohnen und Vonovia wird sich weiter zum Sprachrohr einer neoliberalen Wohnungspolitik machen – Anlässe, einen BBU ohne DW und Vonovia zu fordern, denn nur so wird „unser“ Dachverband zu einer gemeinwohlorientierten Politik zurückfinden.  Zur praktischen Umsetzung wurde angeregt, eine Broschüre mit Argumentationshilfen zur Vernetzung zu erstellen und Wahlprüfsteine für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus zu erarbeiten.

Praxisworkshop: Organizing in Genossenschaften: Wie aktivieren und vernetzen wir die Mitglieder in unseren Genossenschaften?

Es gibt mittlerweile viele Mitglieder in den unterschiedlichen Genossenschaften, die aktiv werden und sich vernetzen wollen. Dabei ist es jedoch oft unklar, wie man so eine Vernetzung und Aktivierung in der eigenen Genossenschaft angehen kann. Um Anregungen für die Praxis zu bekommen stellte Rupay Dahm (RA und selbst Genossenschaftsmitglied) das in den USA entwickelte Konzept des “ Organizing” vor. Ausgehend von den eigenen genossenschaftlichen Erfahrungen diskutierten die Teilnehmer*innen, was sinnvolle Ziele und Methoden sind und wo das Konzept seine Grenzen hat. Anders als in Arbeitskämpfen oder Mietkämpfen gegen große Konzerne, existiert bei Genossenschaften oft keine klare Gegenpartei und es geht eher um die Demokratisierung der existierenden Strukturen. Als konkrete Möglichkeit kam die Idee, einen Leitfaden zu erstellen, wie Mitglieder sich organisieren und sich besser für ihre Rechte einsetzen können.

 

 

 

 

 

Das Programm

Freitag, 25. September ab 19 Uhr:
Podiumsdiskussion: „Die Rolle der Wohnungsgenossenschaften auf dem Weg zu einer sozialen Wohnungspolitik“ (Livestream)

Wohnungsgenossenschaften als Selbsthilfeorganisationen der Mitglieder können eine echte Alternative zu profitorientierten Immobilienunternehmen sein. Jedoch schöpfen sie ihre Potenziale bisher viel zu wenig aus. Wie können sie einen Beitrag zur sozialen Wohnraumversorgung mit bezahlbaren Mieten leisten und was könnte die Berliner Politik und Verwaltung zur Hebung genossenschaftlicher Potenziale beitragen? Darüber diskutieren:

Bea Fünfrocken

Elektrikerin und Reparaturhandwerkerin
XENION (psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte) e.V., Projektstelle Wohnraum für Geflüchtete
Aufsichtsrätin der WBG “Am Ostseeplatz eG”
Mitgründerin der Genossinnenschaft Schokofabrik eG (dort 10 Jahre im Ausichtsrat)

Andrej Holm

Stadtforscher (Humboldt Universität)

Werner Landwehr

Mitgründer und Vorstand DIESE eG
Vorstand und Geschäftsführung Forum Kreuzberg
2008 – 2019 Leiter GLS Bank Berlin
Mitarbeit diverse NGO

Moderation: Elisabeth Voß

Die Veranstaltung wird als Livestream durchgeführt.


Samstag, 26. September 12 – 14 Uhr:
Die Workshops

Wir bedanken uns beim aquarium am Kottbuser Tor, bei der Regenbogenfabrik in der Lausitzer Straße, dem Stadtteilzentrum Familiengarten in der Oranienstraße und dem Nachbarschaftszentrum Kiezanker  in der Cuvrystraße, dass sie uns Räume für die Veranstaltung zur Verfügung gestellt haben.

Workshop 1: Inwieweit verbinden Wohnungsgenossenschaften ihr wirtschaftliches Handeln mit sozialer Verantwortung für die Gemeinschaft?

Der Workshop wird gemeinsam vorbereitet und durchgeführt von Bea Fünfrocken (XENION Wohnraum für Geflüchtete), dem AK Wohnungsnot (obdachlose Menschen) und Hestia Wohnraumversorgung (für Frauen die von häuslicher Gewalt betroffen sind). Welche Erfahrungen machen sie mit Wohnungsvermittlungen in Wohnungsgenossenschaften, wo gibt es strukturelle Zugangsbarrieren seitens der Wohngenossenschaften? Welche Diskussionen kennen Mitglieder in ihren eigenen Wohnungsgenossenschaften zur Wohnungsvergabe? Ziel ist, die Diskussion und Erarbeitung von Vorschlägen wie den Vorbehalten seitens der Wohnungsgenossenschaften kreativ begegnet werden kann.

Moderation: Bea Fünfrocken

Workshop 2: Demokratie in Genossenschaften: Anspruch und Wirklichkeit

Genossenschaften gelten als grundsätzlich demokratisch. Aber wie sieht es in der Wirklichkeit damit aus? Worüber können die Mitglieder und deren Vertreter*innen wirklich entscheiden? Hierüber soll es Informationen und einen Austausch geben. Wir werden auch dabei die Satzungen von Genossenschaften und die Empfehlungen des GdW (Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V.) kritisch unter die Lupe nehmen.

Moderation: Thomas Schmidt

Workshop 3: Genossenschaften und stadtpolitische Bewegung(en)

Die Auseinandersetzungen um den Mietendeckel in 2019 haben zu einer Polarisierung in den Genossenschaften geführt. Während Dachverbände und viele Vorstände Seit an Seit mit der Immobilienwirtschaft gegen den Deckel mobilisierten, kam aus der Mitgliedschaft Widerspruch in mehreren offenen Briefen, kritische Genossenschaftsmitglieder und Netzwerke gingen gemeinsam mit den mietenpolitischen Initiativen für den Mietendeckel und für eine solidarische Wohnungspolitik auf die Straße. Wie können diese zarten Ansätze von Zusammenarbeit vertieft werden? Was können diese Genossenschafter*innen von den mietenpolitischen Bewegung lernen? Welchen Beitrag können sie leisten für eine solidarische Wohnungspolitik? Darüber wollen wir in diesem Workshop mit
Vertreter*innen stadtpolitischer Initiativen diskutieren.

Moderation: Ralf Hoffrogge, Günter Piening

Praxisworkshop 4: Organizing in Genossenschaften: Wie aktivieren und vernetzen wir die Mitglieder in unseren Genossenschaften?

Es gibt mittlerweile viele in den unterschiedlichen Genossenschaften, die aktiv werden und sich vernetzen wollen. Dabei ist es jedoch oft unklar, wie man so eine Vernetzung und Aktivierung in der eigenen Genossenschaft angehen kann. Der Workshop soll einige praxisnahe Vorschläge hierzu aufzeigen. Damit hängt oft auch die Frage eng zusammen, was man mit der Organisierung der Genossenschaftsmitglieder erreichen will und kann. Was sinnvolle Ziele sind und was sich eher schlechter realisieren lässt, soll ebenso Teil des Workshops sein.

Moderation: Heiner Koch, Rupay Dahm


Fragen und Meinungen aus dem Publikum

Während der Podiumsdiskussion am 25.9.2020 gab es die Möglichkeit, über email Fragen und Anregungen zur Diskussion einzureichen. Welche Themen beschäftigen Genosssenschafter*innen? Hier dokumentieren wir einige Mails.

Hallo, vielen Dank für die tolle Initiative. Folgende Frage ans Podium: Könnt ihr bitte etwas zur Förderung von Genossenschaften durch den Senat sagen. Wie schätzt ihr die aktuellen Fördermöglichkeiten ein? Was sollte sich hier ändern?
F.

Hallo zusammen, ja, schön, dass ich das Glück habe in einer großen Genossenschaft wohnen zu dürfen. Ich möchte aber gern auch mitbestimmen können, was dort neu geplant wird. Neubau in Genossenschaften heißt bisher meist, unbezahlbare Mieten für die Mitglieder/innen, die deshalb oft auch gar keinen Neubau wollen, weil die Genossenschaftsgrößen kaum mehr Transparenz und Mitbestimmung zulassen.
In den Mitglieder:innenzeitungen dürfen leider auch nur die Vorstände ihre Verlautbarungen veröffentlichen und Gegendarstellungen werden nicht gedruckt.
Also, bitte geht auch auf das Thema Mitbestimmung ein.
H.

Einkauf durch Sozialbeitrag für Anteile für Bedürftige – GeWobag hat kleine Villen an Uferstr in Friedrichshagen – mindestens 50 % Genossenschaftsbau sozial auf dem Dragonerareal – aber Gewerbe ? – solidarische Stadt Betonspd –
Deutsche Wohnen e a verschlanken durch Umlagerung der Überhänge auf Genossenschaftl. Gemeinsch .
R.

…viele Genossenschaften nehmen keine Bürger/innen, die Transferleistungen beziehen, z. B. die 1892 eG
H.

Liebe Diskussionsrunde, es wurde gerade gesagt, Genossenschaften verkaufen nicht.
Aber sie privatisieren, auch Genossenschaften im Bündnis Junge Genossenschaften.
Es wäre wirklich mal eine Untersuchung wert, wieviel vom Wohnungsbestand
verkauft wird. Förderungen sollten doch auch davon abhängig gemacht werden (quasi entgegengesetzt zu dem Förderprogramm der 90er Jahre, wo die Möglichkeit zur Umwandlung in Eigentum Fördervoraussetzung war).
E.

Was mir in der Diskussion bisher völlig fehlt, sind die Baukosten, die dann entstehen, wenn Neubauten entstehen, die dem Klimawandel gerecht werden.
Heute waren 21.000 Menschen allein in Berlin auf der Straße, die einfordern, dass Sofortmaßnahmen entwickelt werden, damit das 1,5° Ziel des Pariser Abkommens erreicht werden kann. Wenn ich genossenschaftlich so neu baue, kann ich keine Mieten generieren, die dem sozialen Wohnungsbau entsprechen. Welche staatlichen Hilfsmaßnahmen stellen Sie sich denn da vor, Herr Holm?
J.

Frau Fünfrocken scheint die Strukturen in großen Genossenschaften nicht zu kennen.
Es werden keine Räume für Nutzer/inneninitiativen zur Verfügung gestellt.
H.

Genossenschaften sollten auch nicht privatisieren, das führt leider sehr oft zur Individualisierung und Entsolidarisierung!
C.

Der Blick nach Zürich gibt einen Hinweis: dort werden die Wohnungsunternehmen begünstigt, die sich an das Prinzip der Kostenmiete halten. Das wäre auch das, was genossenschaftlich angezeigt ist. Vermutlich sind das nur die Minderheit der Berliner traditionellen Wohnungsgenossenschaften. Das müsste aber wohl erst einmal genau ermittelt werden. Zitat Zürich: “ Als gemeinnützige Wohnungen im engeren Sinne werden gemäss Definition der Gemeindeordnung jene «Wohnungen im Eigentum von gemeinnützigen Wohnbauträgerinnen oder Wohnbauträgern» gezählt, «die ohne Gewinnabsichten dem Prinzip kostendeckender Mieten verpflichtet sind». Dadurch zählen die Wohnungen im Besitz von gemeinnützigen Rechtspersonen, die nicht das Modell der Kostenmiete gemäss kantonaler Wohnbauförderung anwenden, nicht zu den gemeinnützigen Wohnungen im engeren Sinn. “ (Quelle: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/ueber_das_departement/medien/medienmitteilungen/2016/mai/160524a.html)
G.

GENOSSENSCHAFTER*INNEN: Mitglieder vernetzen sich

Pressemitteilung vom 27.09.2020

Mit dem Alternativen Genossenschaftstag am 25./26. September 2020 ist die Vernetzung von Mitgliedern aus Berliner Wohnungsgenossenschaften einen großen Schritt weitergekommen. Sie wollen, dass ihre Genossenschaften in diesen Zeiten eines angespannten Wohnungsmarktes einen größeren Beitrag zur Wohnraumversorgung leisten.

Auf der Podiumsdiskussion am Freitagabend, die als Livestream aus dem aquarium, einem beliebten Kreuzberger Veranstaltungsort am Kottbusser Tor übertragen wurde, berichtete Werner Landwehr, Vorstand der Genossenschaft DIESE eG, die mehrere Häuser im Rahmen bezirklich ausgeübter Vorkaufsrechte erworben hat, dass viele junge Genossenschaften gerne neu bauen würden, aber keine geeigneten Grundstücke bekämen. Auch eine Genossenschaftsförderung gäbe es praktisch nicht. Der Stadtforscher Andrej Holm stimmte zu und kritisierte, dass die Förderung vom Senat ohne Rücksprache mit den Genossenschaften konzipiert wurde. Er stellte aber auch klar, dass Genossenschaften, wenn sie staatliche Förderung erhalten wollen, Verpflichtungen – zum Beispiel zur Wohnungsvergabe an Menschen mit niedrigem Einkommen – eingehen müssten.

Genossenschaften brauchen mehr Demokratie

Die veranstaltende Initiative DIE GENOSSENSCHAFTER*INNEN gründete sich 2019 aus Protest gegen die Politik der Genossenschaftsvorstände und der Dachverbände wie dem BBU, die versuchten, den Mietendeckel zu verhindern – gegen die Interessen vieler Genossenschaftsmitglieder. Die Forderung nach einer Demokratisierung von Genossenschaften zog sich wie ein roter Faden durch die vier Workshops am Samstag. Mitglieder aus vielen Berliner Wohnungsgenossenschaften trugen Ideen und Vorschläge zusammen.

Damit sich Genossenschaften von profitorientierten Immobilienunternehmen unterscheiden, müssen sich die Mitglieder stärker beteiligen können. Vorstände, Aufsichtsrät*innen und Mitarbeiter*innen brauchen eine Ausbildung im Sinne des Genossenschaftsgedankens der wirtschaftlichen Selbsthilfe. Heiner Koch (Wohnungsgenossenschaft Treptower Park) schlägt vor, einen Leitfaden zu erstellen, wie Mitglieder sich organisieren und sich besser für ihre Rechte einsetzen können. Für Thomas Schmidt (Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892) reicht das nicht aus: „Das Genossenschaftsgesetz muss geändert werden, damit die Mitglieder mehr Rechte haben“.

Je 80 Wohnungen für Geflüchtete und für soziale Träger bis Ende 2021

Genossenschaften sollen verstärkt Wohnraum anbieten für diejenigen, die kaum Chancen am Wohnungsmarkt haben, beispielsweise Obdachlose oder Geflüchtete. Bea Fünfrocken (XENION und Wohnungsbaugenossenschaft Am Ostseeplatz) schlägt vor, einen revolvierenden Fonds zu gründen, in den jede Genossenschaft zum Beispiel 3 Prozent ihres Bilanzgewinns einzahlt und aus dem die Einlagen für mittellose Mitglieder finanziert werden können. Als ersten Schritt solle „jede der ca. 80 Berliner Wohnungsgenossenschaften bis Ende 2021 mindestens eine Wohnung für Geflüchtete und eine Wohnung für soziale Träger zur Verfügung stellen“. Wichtig sei, ein solidarisches Leitbild für Genossenschaften zu entwerfen, in dem eine soziale Wohnungspolitik verpflichtend festgeschrieben wird.

Die Initiative DIE GENOSSENSCHAFTER*INNEN wird sich stärker mit der Mieter*innenbewegung vernetzen und gemeinsam zu einer Schnittstelle zur Politik werden. Günter Piening (Genossenschaft Möckernkiez): „Zur Abgeordnetenhauswahl 2021 werden wir Wahlprüfsteine aufstellen, um die Genossenschaftspolitik der Parteien zu erfragen“. Es muss sich einiges verändern in den Genossenschaften, aber auch Politik und Verwaltung sind gefragt, Genossenschaften wirklich bei der Umsetzung ihres Versorgungsauftrags zu unterstützen.

Der Alternative Genossenschaftstag ist zuende, der Vernetzungsprozess der Mitglieder geht weiter.

 

1892: Wo bleibt die Geschlechtergerechtigkeit?

Zur Situation bei 1892 erreichte uns folgende Zuschrift:

„Zur Nachricht über die Wohnungsbaugenossenschaft 1892 eG möchte ich noch einen Aspekt anmerken, der leider in vielen Genossenschaftsinitiativen nicht für so wichtig erachtet wurde, auch nicht in der Genossenschaft von Unten, die immer Anderes zu tun gedachte, als sich auch in Wohnungsgenossenschaften für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen.

In der 1892 eG gibt es mittlerweile den dritten männlichen Vorstand. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende ist männlich und die einzige Frau, die zur Wahl stand für einen Vorstandsposten, hatte in diesen verkrusteten Strukturen keine Chance. Ich hoffe, bei Genossenschafter*innen ist diese Thematik nicht nur Nebensache, sondern ein Grund, sich auch an den Aktionstagen im September 2020 für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen. Gerade in Wohnungsgenossenschaften böten sich so viele Möglichkeiten, neue humanere Modelle der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit zu erproben, was in skandinavischen Ländern schon getan wird.

Es ist doch keine Kleinigkeit, wenn die Hälfte der Menschheit aus Führungsfunktionen regelmäßig ausgegrenzt wird, und dies geschieht nicht nur bei DAX-Konzernen, sondern gerade auch bei Wohnungsgenossenschaften. Dennoch, falls dieser Einwand kommen sollte: Es reicht nicht aus, nur Frau zu sein, es muss auch ein Bewusstsein für die großartige Idee von Genossenschaft vorhanden sein. Leider reproduzieren auch viele Frauen, wenn sie denn Führungspositionen erreichen, wieder alt hergebrachte Muster.

Ich hoffe, es ist auch eine Nachricht wert, dass Genossenschaften meiner Meinung nach auch in ihren Satzungen eine Frauenquote brauchen, da die Herren nicht bereit sind, freiwillig zu gehen.“

W. (Name der Red. bekannt)