Nach Vorstandsentlassung: Unruhe in der Wohnungsgenossenschaft Neukölln

Höchstes Beschlussgremium einer Genossenschaft ist die Generalversammlung. Damit die Mitglieder – oder bei großen Genossenschaften die Vertreter:innen – sachgerecht entscheiden können, haben sie ein Informationsrecht. Je wichtiger die Entscheidung, desto mehr Informationen benötigen sie. Häufig aber zeigen sich Aufsichtsrat und Vorstand nicht sehr auskunftsfreudig. Ein besonders krasses Beispiel bietet derzeit die Wohnungsgenossenschaft Neukölln eG, wo die Vertreterversammlung über die fristlose Entlassung eines Vorstandsmitglieds entscheiden sollte, die Begründungen dafür aber im Vagen blieben. Seitdem tobt die Gerüchteküche.

Die Wohnungsgenossenschaft Neukölln ist stolz auf ihre über 120-jährige Geschichte. 1901 von einigen Rixdorfer:innen gegründet, hat sie heute rund 5000 Mitglieder, 4000 Wohnungen und 33 Gewerberäume. Mit einer Bilanzsumme von 71,7 Mio € – davon 46,7 Mio Eigenkapital! – und einem Jahresüberschuss von 3,2 Mio (2022) gehört sie zu den grundsoliden und stabilen Genossenschaften in Berlin. Man wolle, so heißt es auf der Homepage, „den genossenschaftlichen Gedanken insbesondere bei jüngeren Menschen und Familien wiederbeleben. Tradition und Modernes sollen verstärkt ineinander übergehen.“ 110 Vertreter:innen entscheiden in der Generalversammlung über die grundsätzlichen Angelegenheiten der Genossenschaft.

Am 8. November 2023 waren diese zu einer außerordentlichen Generalversammlung eingeladen. Die Tagesordnung war so lapidar wie brisant: Kündigung eines Vorstandsmitglieds „aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung“. Näheres war im Vorfeld nicht zu erfahren, entsprechend machten Gerüchte ihre Runden. Was ist da Schlimmes passiert, das nicht einmal das Ende der Vertragslaufzeit Ende 2025 abgewartet werden kann? Immerhin müssen nach § 626 I BGB „Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.“ Dazu gehören nach einschlägiger Rechtsauffassung etwa das Verschweigen von für das Dienstverhältnis bedeutenden Vorstrafen, Ausübung einer nicht genehmigten Nebentätigkeit, der Missbrauch der Vertretungsmacht oder bewiesene strafbare Handlungen, die Bezug auf das Anstellungsverhältnis haben, wie z.B. Diebstahl (§ 242 I StGB), Betrug (§ 263 I StGB) oder Untreue (§ 266 I StGB).

Die Vertreter:innen waren also auf schwerwiegende Vorfälle mit großem finanziellen Schaden gefasst und erwarteten vor allem Klarheit. Die sie aber nicht bekamen. Der Aufsichtsratsvorsitzende habe von Notizen auf Bauaufträgen berichtet, Vermerken über nachträgliche Rabatte u.a. Konkrete Verfehlungen, die auf einen finanziellen Schaden, auf Vorteilsnahme oder eine Straftat hindeuten, habe er nicht vorgelegt. Auch eine Strafanzeige sei nicht gestellt worden. So die übereinstimmenden Erinnerungen von Vertreter:innen.

„Wir fühlten uns überrumpelt“

Die Ausführungen erzeugten eher Ratlosigkeit als Empörung, viele Fragen blieben offen, die Gemengelage war kaum zu entwirren: „Wir fühlten uns überrumpelt.“ Mehrfach habe man angemahnt, Vorstand und Aufsichtsrat sollten sich auf eine gütliche Lösung einigen, bevor die Vertretersammlung zu einer so gravierenden Entscheidung gezwungen wird.

Aber der Aufsichtsrat habe das Plädoyer auf gütliche Einigung vom Tisch gewischt und auf sofortiger Abstimmung bestanden. Und bekam die Quittung. Denn es passierte etwas, was in der Geschichte einer Genossenschaft Seltenheit hat: Viele Vertreter:innen spielten nicht mit. Die Abstimmung über die Amtsenthebung bekam zwar eine Mehrheit , aber nicht die lt. Satzung nötigen 75%. Da der Aufsichtsrat die Kündigung des Arbeitsvertrages, für die es nur eine 50%ige Mehrheit braucht, gleich im Block mit hat abstimmen lassen, ist das Ergebnis paradox: Das Vorstandsmitglied ist weiterhin im Amt – aber der Arbeitsvertrag fristlos gekündigt.

Seit diesem Abend befindet sich die Genossenschaft in einer Hängepartie: ein Vorstandsmitglied arbeitet regulär, eines ist noch im Amt, aber trotzdem gekündigt. Anfang Januar wurden die Vertreter:innen informiert, dass eine dritte Person in den Vorstand berufen wurde und Verhandlungen über die Aufhebung des Vertrages der gekündigten Person noch nicht abgeschlossen sind.

Diese Hängepartie ist der Nährboden für Spekulationen. Gibt es doch einen finanziellen Schaden? Ist das ganze konstruiert und wenn ja, warum? Ist es ein Machtkampf innerhalb der Führungsriege oder gar ein Stück patriarchales Machtgehabe? Denn immerhin geht es hier um ein weibliches Vorstandsmitglied – eine absolute Seltenheit in der Genossenschaftsszene. Trotz der Klatsche auf der Vertreterversammlung und der eingetretenen Führungskrise müssen die Mitglieder weiter über die Hintergründe rätseln.

Eine Anfrage mit Bitte um Stellungnahme durch den Aufsichtsrat blieb bis zum 15. Januar unbeantwortet.

Black Box Genossenschaft

Der Krach in der Wohnungsgenossenschaft Neukölln eG wirft ein Schlaglicht auf Glanz und Elend der Wohnungsgenossenschaften in Berlin. Gerade die großen unter ihnen, darunter auch die etablierte Wohnungsgenossenschaft Neukölln, versorgen die Stadt seit über einem Jahrhundert mit bezahlbarem Wohnraum. Doch bei Demokratie und Transparenz hapert es. Eigentlich regieren die Mitglieder: ihnen gehört der Laden, sie wählen Vertreter:innen, die wiederum einen Aufsichtsrat wählen, der den Vorstand bestellt. Doch das dreifach indirekte Wählen sorgt dafür, dass viele Mitglieder von Großgenossenschaften nichts von der Verwaltung ihrer Wohnungen wissen, sie fühlen sich wie in einem Mietverhältnis mit einem Privateigentümer. Ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter dürfen einmal im Jahr den Geschäftsbericht mit dem Vorstand diskutieren. Weitergehende Vollmachten wie die Entlassung des Vorstandes sind Buchstaben in der Satzung, kommen in der Praxis jedoch nicht vor. Wenn doch, zeigt sich die Überforderung eines erstarrten Systems wie in Neukölln. Eine Werbung für „den genossenschaftlichen Gedanken“, die die Neuköllner Genossenschaft anstrebt, ist das bestimmt nicht.

2 Gedanken zu “Nach Vorstandsentlassung: Unruhe in der Wohnungsgenossenschaft Neukölln

  1. Hallo Leute vielen Dank für die Informationen.
    Ich wohne in einer Wohnung der Wohnungsgenossenschaft Neukölln eG.
    Auch hier gibt es Schwierigkeiten.
    Für weitere Infos wäre ich dankbar.
    Mit freundlichem Gruß
    D.

  2. Ihr Lieben engagierten Menschen, ich danke Euch wirklich von ganzem Herzen für diesen sehr wertvollen Artikel. Auch ich lebe seit 28 Jahren in dieser Genossenschaft und war und bin, weiterhin von Herzen im genossenschaftlichen Gedanken, wie auch mein Mann. Wir haben in dieser Genossenschaft so viel erleben dürfen, leider nicht zum Wohle der Genossen. Dieser Artikel ist wertschätzend formuliert und berührt sehr vieles. Tasächlich liegt die Ursache der sich jetzt deutlich zeigenden Problematiken tiefer !
    Deutlich erkennbar ist allerdings schon länger ein scheinbar pyramidales System. Es wird deutlich verkannt, dass der Vorstand ledglich zur Verwaltung bestellt ist. Scheinbar ist in den letzten Jahrzehnten, was die Aufgabe, die Verantwortung und das gedeihliche Miteinander zum Wohle aller Genossen betrifft, deutlich in eine Schieflage geraten. Es bedarf einer deutlichen, dennoch weiterhin respektvollen,fachlichen, sachlichen, inhaltlichen aber vor allem zielführenden Korrektur/ Erneuerung alter “ verkrusteter“ gewohnheitsmäßiger, destruktiver Strukturen !

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